Heilungspotenzial des Hinteren Kreuzbandes
- corylusmed
- 13. Dez. 2020
- 4 Min. Lesezeit
Eine Verletzung des Hinteren Kreuzbandes ist relativ selten und entsteht in der Regel nur durch starke Gewalteinwirkung von außen auf das Schienbein. Verletzungen entstehen vor allem beim Sturz auf das Schienbein bei gebeugtem Knie oder beim Aufprall des Schienbeins am Armaturenbrett (sog. „Dashboard-injury“). Es kann zum Anriss oder vollständigen Abriss kommen.
Im Folgenden werfen wir einen kurzen Blick auf die verschieden Schweregrade von Verletzungen des Hinteren Kreuzbandes, handeln die Anatomie des Hinteren Kreuzbandes ab (und erklären hier, warum dieses im Vergleich zum Vorderen Kreuzband auch ohne Operation eine gute Heilungsprognose hat) und stellen zum Schluss die derzeitig evidenzbasierten Therapieempfehlungen vor
Einteilung
Grad I: Bewegungsspiel Ober- gegen Unterschenkel 3 – 5mm. Anriss des Bandes, evtl unangenehmes Gefühl oder leichter Schmerz in der Kniekehle, kein Gefühl von Instabilität
Grad II: Bewegungsspiel Ober- gegen Unterschenkel 6 – 10mm. Für gewöhnlich über 50% eingerissen, zusätzlich Läsion der Seitenbänder möglich. Instabilitätsgefühl möglich
Grad III: Bewegungsspiel Ober- gegen Unterschenkel >10mm. Kompletter Bandabriss mit Verletzung anderer Kniebänder (i.d.R Seitenbänder) und knöchernen Ausrissen. Eindeutiges Instabilitätsgefühl mit Problemen bei abwärtsgehen an Treppe und Abhängen. Bei Seitenbandrupturen zusätzlich Gefühl, dass Knie zur Seite wegrutscht. Positives Gravity Sign
Anatomie des Hinteren Kreuzbandes
Das hintere Kreuzband verbindet den Oberschenkelknochen (Femur) und das Schienbein (Tibia) miteinander. Seine Befestigungsstellen sind der vordere, innenliegende Teil des Oberschenkels (medialer Femurkondylus) und die hintere Mitte des Schienbeins (Area intercondylaris posterior). Beide Kreuzbänder werden von der Gelenkkapsel des Kniegelenks umschlossen (Membrana fibrosa), kommen dabei aber nicht in Kontakt mit der Gelenkflüssigkeit (Membrana synovialis). Gemeinsam mit dem vorderen Kreuzband und den Seitenbändern sorgt es für die Stabilisation des Kniegelenkes, in dem es das seitliche Weggleiten der beiden Gelenkpartner verhindert. Zusätzlich hält es bei Beugung das Schienbein in seiner Position. Ohne das Hintere Kreuzband (zum Beispiel wenn es gerissen ist und seine Funktion nicht mehr ausüben kann) rutscht das Schienbeins nach hinten. In der Untersuchung zeigt sich dem Behandler dies durch das oben erwähnte positive Gravity Sign. Der Patien verspürt diese Instabilität ebenfalls, wobei sie insbesondere beim bergabgehen oder beim Treppe hinabsteigen auffällt.
Funktion geklärt, warum hat das Hintere Kreuzband jetzt aber die besseren Heilungschancen?
Zum Ersten ist es im Vergleich zum vorderen Kreuzband aufgrund seiner Dicke deutlich stärker. Oft fallen kleine Risse (Grad 1) deshalb auch gar nicht subjektiv auf.
Zweitens ist es viel besser durchblutet. Bei Verletzung ist der Abtransport von Trümmerstücken und die Versorgung mit Nährstoffen für die automatisch ablaufenden Heilungsprozesse (in etwa so, wie wenn eine offene Hautstelle verkrustet und wieder neue Haut nachwächst) daher deutlich besser.
Aus diesem Grund spricht sich auch die deutsche Leitlinie zur Behandlung von Verletzungen des hinteren Kreuzbandes dafür aus, Grad 1 und 2 konservativ (also ohne Operation zu behandeln). Bezüglich Grad 3 wird dort geschrieben: „Ältere Studien zeigen eine relative Gleichwertigkeit der konservativen und operativen Behandlung Neuere Studien geben Tendenzen zum besseren Outcome nach operativen Vorgehen an.“
Ob Operativ oder Konservativ die bessere Wahl ist, kann bislang also noch nicht eindeutig entschieden werden. Sollte sich nach einer Verletzung des Hinteren Kreuzbandes allerdings eine chronische Instabilität einstellen, muss ein operativer Bandersatz in Erwägung gezogen werden.
Im Folgenden werden die bisherigen, evidenzbasierten Therapieoptionen bei konservativer Behandlung vorgestellt. Diese gelten sowohl bei Erstversorgung, als auch nach einem operativen Bandersatz. Generelle besteht die Möglichkeit, selbst bei ausbleibender Heilung, das Knie allein muskulär zu stabilisieren. Im Vergleich zum vorderen Kreuzband, verläuft die Rehabilitation des hinteren Kreuzbandes deutlich langsamer. Die, im nächsten Punkt vorgestellten Therapiemöglichkeiten sind der deutschen Leitlinie für Unfallchirurgie (DGU-LL Hintere Kreuzbandruptur 012-029 für AWMF, https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/012-029l_S1_Hintere-Kreuzbandruptur_2018-08_01.pdf) und der englischsprachigen Leitlinie der Orthopaedic Section of the American Physical Therapy Association (Knee Stability and Movement Coordination Impairments: Knee Ligament Sprain, https://www.jospt.org/doi/10.2519/jospt.2010.0303?url_ver=Z39.88-2003&rfr_id=ori:rid:crossref.org&rfr_dat=cr_pub%3dpubmed) entnommen
Therapie
Erste Maßnahmen
Ggfs. abschwellende Maßnahmen durch Hochlagern und Manuelle Lymphdarinage
Kühlen bei aufkommendem Schmerz
Immobilisierung mit fixierender Orthese
In den ersten 4 Wochen wird die Fixation des gestreckten Knies empfohlen, um die Heilung des Bandes durch Verrutschen von Ober- und Unterschenkel gegeneinander nicht zu behindern. Die Beugung wird bis zur 12. Woche nach und nach freigegeben. Die Orthese sollte tagsüber und während körperlicher Aktivität ständig getragen werden. Eine aktive Beugung des Knies sollte vermieden werden. Abnahme der Orthese nur in Bauchlage, unter Anspannung des Quadrizeps oder unter ständiger Unterstützung der Wade (DGU-LL Hintere Kreuzbandruptur 012-029 für AWMF, https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/012-029l_S1_Hintere-Kreuzbandruptur_2018-08_01.pdf)
“For the first 4 weeks following multiligament surgery, patients are required to wear a postoperative knee brace locked in full knee extension with progressive flexion thereafter.” (A multidisciplinary approach to the evaluation, reconstruction and rehabilitation of the multi-ligament injured athlete, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17241105/)
Mobilisierung an Unterarmgehstützen in der Orthese
um den Heilungsprozess zu unterstützen wird empfohlen in den ersten 2-4 Wochen nur mit 15-20 Teilbelastung aufzutreten
Kräftigung der Quadrizepsmuskulatur (Muskulatur der Oberschenkelvorderseite)
Eine Kräftigung des vorderen Oberschenkels (Streckmuskulatur des Knies) wird empfohlen, da dieser das Schienbein nach vorne zieht und somit für eine muskuläre Stabilisierung des Knies stärkt. Eine Aktivierung der ischiocruralen Muskulatur (Oberschenkelrückseite/Beugemuskulatur) sollte vermieden werden, da diese für ein stärkeres Gleiten des Unterschenkels nach hinten sorgt und damit Stress auf das HKB ausübt (Harmer und Höher, Evaluation and treatment of posterior cruciate ligament injuries, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9617416/)
Training im offenen System ohne Gewicht, z.Bsp: Abheben des gestreckten Beines in Rückenlage, Sitz oder Stand
Training im geschlossenen System mit leichtem Widerstand, z.Bsp: Isometrisches Anspannen in Rückenlage, oder im Stand gegen den Widerstand eines Therabandes/Ball in der Kniekehle, Plank (anfangs mit abgelegtem Oberkörper)
Belastung langsam steigern und Bewegungsausmaß sukzessiv vergrößern, sobald freigegeben (Übergang zu Kniebeugen, Beinpresse, etc. mit Fokus auf die exzentrische Phase)
Einen beispielhaften Therapieplan mit Limitierungen und einer Auswahl an Übungen finden Sie nachstehend zur Übersicht. Generell liegt die Entscheidung über Bewegungs- und Belastungslimitation beim behandelnden Arzt.
Woche 1-4: Ansteuerung und Kraftausdauer
Belastung bei 20kg, Bewegungslimit Beugung bis max. 20°
4x/Woche 20 bis 30 Wiederholungen in 1-6 Sätzen, 1 Min.Pause

Brückenaktivität des Quadriceps in Bauchlage: Oberkörper abgelegt, Oberschnekel anspannen und Knie von der Unterlage abheben (Vorstufe zur Plank)

Leg Rise: Abheben des gestreckten Beines in Rücken- und Seitlage

Kniestreckung in Rückenlage: Mit dem Fuß druck gegen Wand/Ball aufbauen und Knie gegen den Widerstand strecken
6. Woche: Beginn des Muskelaufbaus
Halbes Körpergewicht Belastung, Beugung bis 60° frei
8 bis 15 Wiederholungen in 2-6 Sätzen, 2 Min Pause mit 40-70% Intensität

Streckung gegen Widerstand

Seitliches Laufen mit Theraband um die Knie
Weiter Übungen sind: Beidbeinige Kniebeugen bis 60° (anschließend pro Woche Bewegungsausmaß steigern), Plank, Maschienentraining: Beinpresse, Beinstrecker/Leg Extension bei angepasstem Widerstand und Lunges
9. Woche: Vollbelastung, freie Beweglichkeit
Als Übungen kommen Kniebeugen und Lunges mit Gewicht, sowie Einbeinstände zur Stabilisierung des Knies in Frage. Der Fokus sollte jeweils auf die konzentrische Phase (dem "in die Knie gehen") liegen.
12. Woche: Schnellkraft/Reintegration in den Sport
Die beidbeinige Kniebeuge wird durch die Einbeinige Kniebeuge (zum Beispiel an der Treppe) ergänzt. Beginn mit moderatem Lauftraining und beidbeinigen Sprüngen.
Eine Übersicht zum Krankheitsbild mit den oben beschriebenen Therapieoptionen finden Sie hier:
Comments