Sturzprophylaxe bei Morbus Parkinson
- corylusmed
- 1. Juli 2022
- 4 Min. Lesezeit
Reaktiv- und Schnellkrafttraining bei Parkinson
Ich teile hier einen Artikel mit euch, den ich für den diesjährigen Parkinsontag geschrieben habe. Nachdem ich nun Schwerpunktmäßig neurologisch arbeite, wird dies auch gleichzeitig der erste Neuro-Beitrag in diesem Blog - juchu!
Im Folgenden geht es um das Thema Sturzprophylaxe bei Parkinson und wie das reaktive Gleichgewicht (also die Fähigkeit rechtzeitig einen Sturz abzufangen) verbessert werden kann. Entscheidend sind hierfür die Punkte Reaktionsvermögen und Schnelligkeit. Beide werden im Folgenden kurz aus Trainingstheoretischer Sichtweise beleuchtet, ich gebe einen kurzen Überblick über die wissenschaftliche Datenlage zum Thema Sturz und Stürzprävention bei Parkinson und stelle am Ende einige Ideen vor, wie ein Reaktiv- und Schnellkrafttraining für Menschen mit Parkinson gestaltet werden kann. Viel Spaß!

Wissenschaftliche Hintergründe
Bis zu 70 % der Menschen mit Parkinson-Krankheit stürzen jährlich, und bis zu 13 % stürzen wöchentlich. Sturzbedingten Verletzungen sind doppelt so häufig wie in der allgemeinen älteren Bevölkerung (Randel Swanson et al, 3.)
Die einfache Reaktionszeit verlängert sich bei Parkinson-Patienten mit zunehmender Schwere der motorischen Störung (Yanagisawa et al, 1.)
Haltungsinstabilität und Stürze sind komplexe und behindernde Merkmale der Parkinson-Krankheit und sprechen nur schlecht auf Anti-Parkinson-Medikamente an (Xia Shen et al, 2.)
„In fortgeschrittenem Alter von einem Stuhl aufzustehen erfordert vor allem Schnellkraft. Studie zeigt, dass Menschen mit einer hohen Schnellkraft eher länger leben (Ärzte Zeitung, Alice Lanzke, 4.)
Untersucht man den Zusammenhang zwischen Training und der Prävention von Stürzen bei M. Parkinson, dann ergibt sich ein positives Bild (Sherrington et al. 2017). Die besten Outcomes ergeben wahrscheinlich eine Kombination aus traditionellem Krafttraining & Ballistischem Training (Gavin Williams; Leanne Hassett et al 2019).
Training, dass in der On-Phase durchgeführt wird, ist effektiver (Randel Swanson et al., 5.)
Kurzum: Menschen mit Parkinson stürzen recht häufig, sie haben eine verlängerter Reaktionszeit und Schnellkraft verlängert die Lebenserwartung.
Trainingstheoretische Hintergründe
Typisch für Menschen mit Parkinson ist die verlangsamte Bewegung (Hypokinese) und verlängerte Reaktionszeit
Schnellkraft = Möglichst hoher Kraftstoß in möglichst kurzer Zeit
Gute Schnellkraftfähigkeit resultiert in …
Verbesserter Kontraktionsgeschwindigkeit der Muskulatur und vermehrter Bildung von Fast-Twitch-Fasern -> Schnellere muskuläre Ansprechbarkeit
Verbesserte Elastizität von Sehnen und Muskeln -> Bessere Beweglichkeit, Mobilität
Erhöhter Muskelquerschnitt
Bildung von Zeitprogrammen -> Bewegungsvorplanung, Vorinnervation
=> Eine Verbesserung dieser Eigenschaften ist für die Verhinderung von Gangunsicherheit und Sturzgefahr entscheidend UND schützt darüber hinaus die passiven Strukturen (Sehnen, Bänder) im Falle eines Sturzes.

Klassische Schnellkraftübungen wie das olympische Reißen führen zu Muskelwachstum, schnellerem Reagieren der Muskeln und besserer Beweglichkeit.
Reaktivkraft/Plyometrie = schnell nacheinander ablaufende, nachgebende (exzentrische) und anschließend überwindende (konzentrische) Arbeitsweise der Muskulatur
Speicherung und Freigabe von Energie in Muskulatur und Sehne (Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus) -> Reflexaktivierung, höhere Kraftentwicklung
Bewegungsabläufe werden schneller als typisch/notwendig trainiert
Empfohlene Trainingsparameter: Mehrere Sätze, 2-3x/Woche über mind 16 Wochen mit 40-70%iger Intensität.

Plyometrische Übungen wie Springen bereiten den Körper auf schnelle reflexgesteuerte Reaktionen vor.
Trainingsmöglichkeiten in der Gruppe
Frühe Phase (Hoehn & Yahr 1-2):
Gruppenspiele wie Völkerball, Volleyball
Mittlere Phase (Hoehn & Yahr 2-4):
Gruppenspiele wie Ball über die Schnur
Trainingsmöglichkeiten zu Zweit
Frühe Phase:
Alle Sportarten die ein hohes Maß an Reaktion und Schnelligkeiten erfordern, hier insbesondere Kampfsportarten (Boxen, Karate, Judo) und Ballsportarten (Tischtennis, Tennis, Badminton)
Mittlere Phase:
Anlehnen und Loslassen o. Schubstraining nach Höbges
Pratzentraining, Abklatschen
Dem Gegenüber folgen (Spiegelbild sein)
Werfen und Fangen

Sportarten die viel Reaktionsvermögen fordern, bieten fitten Parkinsonpatienten eine ausgezeichnete Gelegenheit ihre Reaktivkraft zu fördern. Stärker betroffenen können mit Pratzen trainieren oder einfach die Hand ihres Gegenüber abklatschen. Natürlich so schnell wie möglich.
Trainingsmöglichkeiten Allein
Frühe Phase:
Schnellkrafttraining mit freien Gewichten: Olympisches Reißen, Olympisches Umsetzen
Schnellkrafttraining mit dem eigenen Körpergewicht: Kastensprünge, Counter Movement Jump, Strecksprünge, Wechselsprünge
Reaktivkraft am Seilzug oder mit Sprüngen: Bewegung alle 6-8 sek ausführen
Seilspringen
Training mit der Koordinationsleiter
Balancieren, Schwebebalken, Slackline, etc.
Reaktionen auf Kommando, z. Bsp. Farben schlagen
Training mit Reaktionsbällen, z.Bsp. Zen Core

Wer fit ist springt! Weiterhin bieten sich klassische Übungen aus dem Schnellkrafttraining an, wie das olympische Reißen (Snatch) oder Umsetzen (Clean).
Mittlere Phase
Schnellkrafttraining mit freien Gewichten Medizinballstoßen (vor, zu Boden, nach oben), Schieben
Schnellkrafttraining mit dem eigenen Körpergewicht, ggfs mit Halt am Geländer: Vertikale Sprünge, Skipping (schnelles auf der Stelle laufen), Seitliche Skippings, Schnelle Kniebeugen, von den Zehenspitzen in die Knie
Training an der Koordinationsleiter o. schnelle Schritte vor und zurück über Markierung am Boden
Reaktivkraft am Seilzug oder mit Sprüngen: Bewegung alle 6-8 sek ausführen
Tandemstand- o. Semitandemstand
Reaktion auf Kommando, z.Bsp. Schrittvariationen (Kommandos auf dem Handy aufnehmen und als Playlist mit zufälliger Wiedergabe abspielen: z.Bsp „Schritt vor“, „Drehen“, „Sitzen“,…)
Schnelles Aufstehen und Hinsetzen

Stärker Betroffene können sich beispielsweise am Stoßen von Medizinbällen versuchen - wer nicht mehr sicher stehen kann, macht das sitzend. Auch schnelles Aufstehen und Hinsetzen, Schnelle Schritte auf der Stelle und leichte Sprünge mit Halt am Geländer sind möglich.
Zum Schluss hier noch ein paar You-Tube-Links zur Inspiration:
Parkinson's Disease | How Senaptec Helps Improve Reaction Time: https://www.youtube.com/watch?v=tZ_j7xrIH18
Plyometrics for elderly: https://www.youtube.com/watch?v=ImD2wqJEvJw
Agility & Balance Drills For Seniors For Preventing Falls: https://www.youtube.com/watch?v=rYs26HEawno
Ganz allgemein gilt:
Jede Art von Bewegung hilft das Leben zu verlängern! 😊 Der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit Parkinson liegt im aktiven Lebensstil – körperlich und geistig. Macht das, woran ihr Spaß habt. Und vor allem: Bleibt dran! Denn: "Hochintensive Übungen und Langzeittherapien werden mit einem größeren Nutzen in Verbindung gebracht als niedrigintensive und mittel oder kurzfristige Therapien." (Kim et al. 1996, Suchowersky et al. 2006)
Hier gibt es wie gewohnt eine Zusammenfassung als PDF. Ich habe mich bemüht sie leicht verständlich und knapp zu fassen ;)
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